Ein Mandant beauftragte mich – wie so oft im Strafrecht – sehr spät. Die Anklage war ihm bereits zugestellt worden und er sollte einen Pflichtverteidiger benennen.
Schon bei unserer ersten Besprechung ahnte ich, was ich in der Ermittlungsakte nicht finden würde.
Ihm wurde u.a. der unerlaubte Handel mit Betäubungsmitteln vorgeworfen. Es drohte eine längere Freiheitsstrafe sowie der Widerruf der Bewährung in einem anderen Verfahren.
Inhaltsverzeichnis [Anzeigen]
Die Pflichten der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren
Es gibt einen netten (hier offensichtlich übersehenen) Paragraphen in der Strafprozessordnung: gem. § 160 Abs. 2 StPO hat die Staatsanwaltschaft
„nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln.„
Das setzt aber voraus, dass die Polizei bereit ist, von den entlastenden Umständen zumindest erst einmal Kenntnis zu nehmen. Das war hier ganz offensichtlich nicht der Fall.
Das Legalitätsprinzip im Strafrecht
Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft beim Vorliegen eines Anfangsverdachts gem. § 152 Abs. 2 StPO zur förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verpflichtet.
Hier gab es eine Anzeige der Krankenversicherung meines Mandanten. Dieser waren überdurchschnittlich hohe Verschreibungen von Fentanyl-Pflastern von verschiedenen Ärzten aufgefallen, was sie der zuständigen Staatsanwaltschaft mitteilte.
Fentanyl ist ein extrem starkes Schmerzmittel und gehört zu den verschreibungspflichtigen Betäubungsmitteln. Der Missbrauch von Fentanyl-Pflastern ist nicht nur strafrechtlich relevant, sondern führte auch zu einer Vielzahl von Todesfällen. Die Entscheidung des zuständigen Mitarbeiters der Krankenversicherung erscheint daher zunächst nachvollziehbar.
Aber der Versicherung war auch das Krankheitsbild meines Mandanten bekannt. Er litt und leidet – seit seiner Kindheit – an einer ausgeprägten und sehr schmerzhaften Psoriasis-Arthritis (Schuppenflechte), deren Behandlung bisher wenig erfolgreich war.
Warum hat die zuständige Krankenversicherung daher nicht zunächst den ihr bekannten damaligen Hausarzt meines Mandanten kontaktiert? Sie hatte immerhin jahrelang gewartet, bis sie die Staatsanwaltschaft informierte. Ihr war also die hier zu berücksichtigende besondere medizinische Problematik bewusst.
Das Ermittlungsverfahren
Der zuständigen Polizeibeamtin reichten offenbar zwei Informationen für eine vermeintlich umfassende Beurteilung des Sachverhalts: Der Beschuldigte war mehrfach und u.a. wegen Drogendelikten vorbestraft und es ging um den Verdacht des Handels mit Fentanyl-Pflastern.
Bei der Durchsuchung der Wohnung hätte sie aber stutzig werden müssen. Mein Mandant stand ihr nicht nur direkt gegenüber, sondern hatte ihr – der Höflichkeit folgend – auch seine Hand zum Gruß gereicht. Die Psoriasis-Arthritis war nicht nur sehr schmerzhaft für meinen Mandanten, sondern beeinträchtigt auch sein äußeres Erscheinungsbild enorm.
Die ermittelnde Polizeibeamtin war von den deutlich sichtbaren Spuren der Krankheit aber völlig unbeeindruckt. Sie wollte einen vermeintlichen Handel mit Betäubungsmitteln aufdecken.
Handel mit Betäubungsmitteln?
Was ist Handel mit BtM?
Der unerlaubte Handel mit Betäubungsmitteln ist in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 30 Abs. 1 Nr. 1; § 30a Abs. 1 Nr. 1 BtMG geregelt.
Aber im Betäubungsmittelgesetz gibt es keine eindeutige Antwort auf die Frage, was unter Handeltreiben zu verstehen ist. Denn eine Definition existiert nicht. Jedoch wurden durch die Rechtsprechung verschiedene Kriterien für die Verwirklichung des Tatbestands „Handeltreiben mit BtM“ festgelegt. Der BGH hat dazu unter anderem im Urteil vom 21.11.00, 1 StR 433/00, Stellung genommen:
„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist unerlaubtes Handeltreiben jedes eigennützige Bemühen, das darauf gerichtet ist, den Umsatz von Betäubungsmitteln zu ermöglichen und zu fördern, selbst wenn es sich um eine einmalige, gelegentliche oder vermittelnde Tätigkeit handelt.“ Damit legt der BGH den Begriff des Handeltreibens sehr weit aus: Es muss kein Erfolg erzielt werden. Und auch der Besitz von BtM ist nicht Voraussetzung. Außerdem reicht auch ein gelegentliches oder sogar einmaliges Verkaufen von Drogen, um den Tatbestand des Handeltreibens zu erfüllen.
Aber hier führte bereits die Hausdurchsuchung zu Ergebnissen, die gegen einen Handel sprachen. Und auch weitere umfangreiche Polizeimaßnahmen führten nicht zu einem anderen Ergebnis.
Es gab nicht den geringsten Beweis für den Handel mit Betäubungsmitteln.
Das war der ermittelnden Polizeibeamtin aber egal – der Staatsanwaltschaft später auch.
Das einzige Indiz beruhte auf einer Rechenoperation: Die Anzahl der verschriebenen Fentanyl-Pflaster überschritt statistische Werte, die sich aus der Wirkungsdauer des Medikaments ergaben, erheblich.
Dafür gab es aber medizinische Gründe. Diese spielten jedoch im Ermittlungsverfahren keine Rolle. Denn die Unschuldsvermutung war der ermittelnden Polizeibeamtin ebenso unbekannt, wie ihre Pflicht, auch Ermittlungen in entlastender Hinsicht zu führen.
Das äußere Erscheinungsbild meines Mandanten wurde daher – wie auch sein Krankheitsbild – im Abschlussbericht nicht berücksichtigt.
Das Gerichtsverfahren
Erwartungsgemäß enthielt die Ermittlungsakte nicht einen einzigen Hinweis auf die medizinische Problematik, die hier entlastend zu berücksichtigen war.
Auftragsgemäß gab ich daher zur Vorbereitung der Hauptverhandlung für meinen Mandanten zunächst eine Erklärung ab, die auf diese Problematik einging. Wir legten auch verschiedene ärztliche Stellungnahmen vor, aus denen sich ergab, warum eine rein statistische Bewertung der Anzahl der insgesamt verschriebenen Fentanyl-Pflaster den tatsächlichen medizinischen Erfordernissen nicht gerecht wurde.
Daraus ergab sich aber ein Problem. Zwar war der unerlaubte Handel mit Betäubungsmitteln vom Tisch (der vorsitzende Richter erklärte später in der Hauptverhandlung, dass dieser Punkt niemals hätte zur Anklage gelangen dürfen). Aber das unerlaubte „sich in sonstiger Weise verschaffen“ von Betäubungsmitteln stand noch im Raum. Konkret ging es um die Frage, welche Informationen mein Mandant den jeweils behandelnden Ärzten gegeben oder evtl. vorenthalten hatte.
Wir hätten daher in der Hauptverhandlung eine Vielzahl von Ärzten als Zeugen hören müssen, was die ohnehin schon hohen Verfahrenskosten zu Lasten meines Mandanten noch erheblich erhöht hätte (und letztendlich auch hat).
Der vorsitzende Richter regte daher eine schriftliche Zeugenvernehmung der behandelnden Ärzte an. Mein Mandant stimmte aus den o.a. Gründen zu, obwohl ihm bewusst war, dass in dieser Vorgehensweise auch eine Gefahr lag.
Die Hauptverhandlung
Anders als die ermittelnde Polizeibeamtin, erkannten die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, der vorsitzende Richter und die Schöffen sehr schnell, wie wichtig die besondere medizinische Situation meines Mandanten für die Beurteilung der strafrechtlichen Relevanz seines Verhaltens war:
Sein Hausarzt erklärte, dass es keine brauchbare Literatur oder gesicherte medizinische Erkenntnisse darüber gibt, wie süchtige, substituierte Patienten schmerztherapeutisch behandelt werden können.
Er führte auch aus, dass selbst die erhöhte Anzahl der Fentanyl-Pflaster, die er verschreiben durfte, nicht ausreichend waren für die schmerztherapeutische Behandlung.
Ihm war bewusst, dass sein Patient gar keine andere Wahl hatte, als sich auch von anderen Ärzten Fentanyl-Pflaster verschreiben zu lassen.
Andererseits war er aber verpflichtet, seinem Patienten genau das zu verbieten, weil er sonst die Behandlung hätte abbrechen müssen (und dies im Ergebnis des Ermittlungsverfahrens auch hat).
Medizin vs. Strafrecht
Dieses Spannungsfeld bestimmte das gesamte Verfahren.
Mein Mandant benötigte aus medizinischen Gründen eine weitaus höhere Anzahl von Fentanyl-Pflastern, als sie ihm sein Hausarzt von Gesetzes wegen verschreiben durfte. Ein anderer Arzt darf ihm das Medikament aber nicht ohne Weiteres verschreiben, wenn der Patient angibt, dass er substituiert wird (Drogenersatztherapie) und dass ihm die letzten Fentanyl-Pflaster erst wenige Tage zuvor verschrieben wurden.
Die schriftlichen Zeugenaussagen der Ärzte lagen vor – es war klar, dass mein Mandant sie nicht in jedem Fall über die o.a. Hintergründe informiert hatte.
Es war daher nunmehr an der Zeit für einen sogenannten „Deal“ im Strafrecht.
Verständigung im Strafverfahren (Deal)
Bei einer Verständigung bespricht das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens. Meist geht es darum, eine Einigung über das zu erwartende Strafmaß für den Fall eines Geständnisses zu erzielen. Dadurch kann der Aufwand des Verfahrens, insbesondere die Dauer der Hauptverhandlung, stark verringert werden. Für den Angeklagten kann dies von Vorteil sein, weil er Sicherheit über den Ausgang des Verfahrens erlangt.
Was ist ein Deal?
Bei dem sogenannten „Deal“ handelt es sich um Absprachen zwischen den am Strafverfahren Beteiligten. An diesen „Richtergesprächen“ nehmen die Staatsanwaltschaft, der Richter sowie der Verteidiger teil. Der Angeklagte ist meistens nicht dabei. Aber der Verteidiger vertritt seine Interessen. Denn er kann einschätzen, welcher Rahmen für eine derartige Urteilsabsprache für die Beteiligten (noch) akzeptabel ist.
Eine derartige Absprache muss in der Hauptverhandlung erfolgen. Und der „Deal“ muss entsprechend protokolliert werden. Wird das Verfahren gemäß dieser Absprache beendet, ist ein Rechtsmittelverzicht nach der Urteilsverkündung ausgeschlossen.
Regelungen zum Deal finden sich in verschiedenen Normen der StPO. Die Hauptvorschrift für die Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten ist (§ 257c StPO).
Was ist Gegenstand eines Deals?
Gem. § 257c II StPO dürfen Gegenstand dieser Verständigung nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können. Eine Vereinbarung zum Schuldspruch ist unzulässig.
Aber Absprachen, die gem. §§ 153 ff. StPO zur Einstellung des Verfahrens führen, sind möglich.
Meistens geht es bei einer Verständigung aber darum, für den Fall eines Geständnisses eine Ober- und Untergrenze für die Strafe zu bestimmen.
Ist das Gericht an die Absprache gebunden?
Normalerweise ist das Gericht an diese Absprache gebunden. Aber gem. § 257c IV StPO entfällt die Bindung, wenn
– rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist,
– das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist.
Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden (Beweisverwertungsverbot). Das Gericht muss den Wegfall der Bindung unverzüglich mitteilen.
Die Verständigung führte auch schnell zu einem Ergebnis. Alle Verfahrensbeteiligten waren sich einig, dass das zu erwartende Strafmaß sich in einem Bereich bewegen sollte, der eine (erneute) Strafaussetzung auf Bewährung ermöglichen würde.
Aber wir hatten ein Problem: Es gab ein zweites Ermittlungsverfahren, das hinsichtlich der Hintergründe absolut identisch zu diesem Verfahren war, jedoch weitere Einzelhandlungen umfasste. Dieses Verfahren konnte nicht Bestandteil des „Deals“ sein. Und die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft konnte sich auch nicht weiter zu diesem Verfahren äußern, weil es von einer Kollegin bearbeitet wurde.
Die im Raum stehende Freiheitsstrafe war aber so hoch, dass der Spielraum nach oben im Fall der erforderlichen Gesamtstrafenbildung in einem weiteren Verfahren zu gering war, um auch in diesem Verfahren eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zu ermöglichen.
Das Gericht regte daher an, dass die Staatsanwältin mit ihrem Gruppenleiter klärt, welche Möglichkeiten bestehen, um insgesamt zu einer gerechten Lösung zu kommen.
Es wurde ein weiterer Termin anberaumt.
Hauptverhandlung – Teil II
Es war schon vor dem zweiten Verhandlungstag klar, dass ein anderer Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft an der Verhandlung teilnehmen würde. Aber wie ich auch, war offenbar das Gericht ebenfalls davon ausgegangen, dass wir die begonnene Verständigung mit einer Einigung beenden würden. Und wir hatten auch gehofft, dass die Staatsanwaltschaft für das zweite Verfahren eine Lösung findet, die das Ergebnis dieses Verfahrens nicht zunichte macht.
Umso erstaunter waren wir, als die neue Sitzungsvertreterin erklärte, dass eine Einigung, so wie bereits besprochen, auf keinen Fall erfolgen wird. Die Straftaten meines Mandanten müssten mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden, die deutlich über zwei Jahren liegt. Eine Strafaussetzung zur Bewährung käme nicht in Betracht.
Der vorsitzende Richter nahm zunächst an, die neue Sitzungsvertreterin habe keine Kenntnis von den entlastenden Umständen, die im Ergebnis des ersten Verhandlungstages zu berücksichtigen sein werden. Und er fand deutliche Worte, als die Staatsanwältin erklärte, sie habe diese bereits berücksichtigt. Das änderte aber nichts: Eine Verständigung war nicht mehr möglich.
Unmittelbarkeitsprinzip im Strafverfahren
Aufgrund des Unmittelbarkeitsprinzips war es nunmehr erforderlich, alle Ärzte als Zeugen in der Beweisaufnahme zu hören. Darüber hinaus musste auch ein Sachverständiger zu den medizinischen Gesichtspunkten des Verfahrens und dem Ergebnis eines Drogenscreenings gehört werden.
Es folgte also genau das, was das Gericht aus prozessökonomischen und mein Mandant aus finanziellen Gründen eigentlich vermeiden wollte.
Dafür waren drei weitere Verhandlungstage erforderlich.
Das Ergebnis des Verfahrens
Es bestätigte sich, was schon am ersten Verhandlungstag klar war: Einige Handlungen waren strafrechtlich nicht relevant.
Insbesondere hatte sich auch der Verdacht des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln nicht bestätigt.
In mehr als 20 Fällen hatte mein Mandant aber die Ärzte nicht über alle verschreibungspflichtigen Tatsachen aufgeklärt. Zu den Betäubungsmitteldelikten kam daher tateinheitlicher Betrug zum Nachteil seiner Versicherung.
Das Gericht würdigte nicht nur die Vielzahl der Handlungen, den erheblichen Schaden und die Anzahl der Vorstrafen, sondern berücksichtigte in entlastender Hinsicht auch die besondere krankheitsbedingte Situation meines Mandanten. Es würdigte zudem zu seinen Gunsten, dass er sich die Fentanyl-Pflaster nicht unerlaubt verschafft hatte, um Suchtbedürfnisse zu befriedigen, sondern allein in der Absicht, damit seine erheblichen Schmerzen zu lindern.
Er wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafe lag in dem Rahmen, der ursprünglich bei der nicht zustande gekommenen Verständigung erörtert wurde.
Mein Mandant erhielt etliche Bewährungsauflagen, von denen eine sich sehr schnell als ausgesprochen positiv für ihn darstellte. Er fand einen Schmerztherapeuten, der bereit war, ihn dauerhaft zu behandeln.
Das zweite Ermittlungsverfahren wurde gem. § 154a StPO eingestellt.
Fazit:
Der Weg zur Gerechtigkeit war lang und kostenintensiv. Hier trifft die Kostenbelastung aber zunächst einmal die Staatskasse. Denn ich bezweifele, dass mein Mandant jemals in der Lage sein wird, die Kostenrechnung auch nur annähernd zu bezahlen.