Vorab: § 115 StGB (Widerstand gegen oder tätlicher Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen) verweist auf § 114 StGB:
„§ 114 Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte:
(1) Wer einen Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei einer Diensthandlung tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Es ist zwar in juristischer Hinsicht komplizierter, aber für diesen Beitrag verwende ich zur Vereinfachung teilweise die Bezeichnung aus § 114 StGB.
Mein Mandant hatte eine Vorladung zu einer Beschuldigtenvernehmung erhalten. Der Tatvorwurf war erheblich:
- Gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr (§ 315 StGB)
- tätlicher Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen (§ 115 StGB i.V.m. § 114 StGB)
- Nötigung (240 StGB)
- versuchte Körperverletzung (§ 223 StGB)
- Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB)
Aber er konnte sich an nichts erinnern. Denn alles, was er noch wusste war: Er war sturzbetrunken in einen Zug gestiegen und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht.
Der Tatvorwurf erschien ihm absurd. Denn rechtsradikales Gedankengut war ihm ebenso fremd, wie Gewalt.
Das Ermittlungsverfahren
Mein Mandant stellte sich die richtigen Frage: Er konnte sich an nichts erinnern. Das hatte er dem Sachbearbeiter der Polizei bereits am Telefon gesagt. Sollte er trotzdem aussagen? Er entschied sich, mich zu kontaktieren und um Rat zu fragen. Und meine Antwort war: Nein, keine Aussage!
Sie haben das Recht zu schweigen. Und in den meisten Fällen sollten Sie davon auch zunächst Gebrauch machen. Sie kennen die Aktenlage nicht. Eine evtl. Stellungnahme kann später immer noch erfolgen.
Die Ermittlungsakte ergab:
Mein Mandant war bei der Fahrkartenkontrolle aufgrund seiner erheblichen alkoholischen Beeinträchtigung unfreundlich. Mitreisende versuchten, ihn zu bändigen. Er stürzte schließlich bei einem fahrplanmäßigen Halt auf den Bahnsteig und verletzte sich dadurch. Der Zug konnte zunächst nicht weiter fahren.
Es gab verschiedene Zeugenaussagen des Rettungspersonals. Aber diese stimmten nur in einem Punkt überein: Mein Mandant hatte sich gegenüber dem Rettungsdienst mies verhalten. Er hatte die Sanitäter beleidigt und sich gegen seine Behandlung gewehrt.
Aber zum konkreten Inhalt der Beschimpfungen und Beleidigungen gab es unterschiedliche Aussagen. Einige Zeugen haben nur allgemeine Beschimpfungen gehört. Andere Zeugen glaubten Nazi-Vokabular gehört zu haben.
Zur Ehrenrettung der zuständigen Staatsanwaltschaft: Die Aussagen waren widersprüchlich. Der hinreichende Tatverdacht bezüglich des Vorwurfs des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen war zunächst gegeben.
Nötigung?
Aber hinsichtlich des Tatvorwurfs der Nötigung ergaben sich schon aus der Ermittlungsakte Zweifel.
Der Tatbestand der Nötigung besagt:
„Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
§ 240 StGB
In der Anklage wurde meinem Mandanten vorgeworfen, er hätte den Zug gewaltsam am Weiterfahren gehindert. Das würde eine Nötigung darstellen, weil die Fahrgäste einen unplanmäßigen und nicht gewollten Aufenthalt auf dem Bahnhof hätten dulden müssen.
Es war jedoch schon im Ermittlungsverfahren eindeutig, dass mein Mandant nichts unternommen hatte, um den Zug am Weiterfahren zu hindern. Der Zug hielt, weil es einen medizinischen Notfall auf dem Bahnsteig gab (mein Mandant war verletzt). Aber das erfüllt den Tatbestand der Nötigung nicht.
Tätlicher Angriff: Anwalt im Ermittlungsverfahren
Wenn sich der Mandant erinnert, können schon im Ermittlungsverfahren die Weichen für den weiteren Verfahrensverlauf gestellt werden. Bestenfalls kann so ggf. auch eine Einstellung eines Ermittlungsverfahrens erreicht werden.
Und wenn sich der Mandant an nichts erinnern kann, sind die Verteidigungsmöglichkeiten zwar eingeschränkt, aber doch vorhanden. Hier ging es um zwei wesentliche Punkte:
Täter-Opfer-Ausgleich
Aus der Ermittlungsakte ergab sich, dass mein Mandant gegenüber dem Rettungspersonal sehr unfreundlich war. Und das tat ihm leid. Er wollte sich entschuldigen, aber ohne einen Anwalt, der Akteneinsicht erhält, wäre das nicht möglich gewesen.
Er verfasste ein Entschuldigungsschreiben, das ich an die Zeugen weiter leitete. Und im juristischen Sprachgebrauch fällt das unter “Täter-Opfer-Ausgleich”, der sich strafmildernd auswirkt.
Aber die juristische Bewertung war meinem Mandanten völlig egal. Er wollte sich einfach nur entschuldigen und ohne anwaltliche Akteineinsicht wäre das nicht möglich gewesen.
Ermittlungsakte nicht vollständig
Der zweite Punkt: Mein Mandant hatte mir schon bei der Mandatierung mitgeteilt, dass es einen Arztbericht gibt, der bestätigt, dass er bei Einlieferung ins Krankenhaus immer noch erheblich alkoholisiert war. Ich konnte ihn daher darauf hinweisen, dass wir diesen Bericht für die Verteidigung benötigen. Und er hat ihn mir übermittelt.
Aus welchen Gründen auch immer: Bei der Anfrage der Staatsanwaltschaft, war eine Blutprobe im Krankenhaus nicht auffindbar. Nur die mir vorliegenden Dokumente bestätigten den Grad der Alkoholisierung meines Mandanten.
Das Gerichtsverfahren
Der Vorwurf eines gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr (§ 315 StGB) hatte sich im Ermittlungsverfahren nicht bestätigt. Aber die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage auf die anderen o.a. Vorwürfe gestützt.
Wenn von der Anklage nicht viel übrig bleibt
Bei den Zeugenvernehmungen bestätigte sich, was sich schon aus der Ermittlungsakte ergab: Mein Mandant hatte nicht aktiv eingegriffen um eine Verspätung des Zuges herbei zu führen. Damit hatte sich der Vorwurf der Nötigung nicht bestätigt.
Ebenfalls nicht erfüllt war der Tatbestand des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Auch der tätliche Angriff auf Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, hatte sich nicht bestätigt (siehe dazu die rechtliche Würdigung unten). Und ich ziehe den Hut vor den Zeugen in diesem Verfahren, die sinngemäß ausgesagt haben:
Mein Mandant hat sich zwar völlig daneben benommen. Aber ihre Aufgabe ist es, Leben zu schützen. Und wenn jemand, der – sturzbetrunken – mit Beleidigungen um sich wirft, sich danach entschuldigt, akzeptieren sie das. Daher war die Angelegenheit für sie erledigt.
Anmerkung:
Nein, es ist nicht zu entschuldigen, wenn Rettungssanitäter im Dienst verbal angegriffen werden. Und wenn Sanitäter das als Normalzustand beschreiben, wie es die Zeugen hier getan haben, stimmt etwas nicht mit den ethischen und moralischen Grundsätzen bei Teilen unserer Bevölkerung.
Aber es ist dennoch zu unterscheiden zwischen unethischem Verhalten und strafbarer Relevanz. Und letztere war hier zumindest zum Teil nicht gegeben.
Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte – das Ergebnis
Der Richter hatte einen Hinweis erteilt, dass im Ergebnis der Beweisaufnahme eine Verurteilung wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Betracht kommt (§ 115 StGB iVm § 113 StGB). § 113 StGB ist gegenüber § 114 StGB die weniger schwerwiegende Variante.
Daneben hatten sich diverse Beleidigungen gegenüber dem Rettungspersonal bestätigt. Zu Gunsten meines Mandanten hatten das Gericht und die Staatsanwaltschaft aber berücksichtigt, dass keiner der Zeugen ein Interesse an der Strafverfolgung hatte.
Einstellung gem. § 153a StPO
Es gab weitere Gesichtspunkte, die zu Gunsten meines Mandanten zu berücksichtigen waren. Das Gericht stellte das Verfahren – mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft – daher gem. § 153a StPO vorläufig ein.
Er erhielt die Auflage, einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen. Nachdem er diesen zeitnah gezahlt hatte, wurde das Verfahren zwischenzeitlich endgültig eingestellt.
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