Die erste Verteidigungsstrategie im Strafrecht (insbesondere im Ermittlungsverfahren) besteht in dem Rat: Schweigen Sie! Und das hat einen – guten – Grund. Denn oft wissen Sie nicht genau, was man Ihnen konkret vorwirft.
Und erst recht kennen Sie die bereits vorliegenden Beweise oder Indizien nicht. Und diese sind nicht immer fehlerfrei.
Dass ich öfters Zweifel habe, dass die Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht, Ermittlungen umfassend und auch in entlastender Hinsicht zu führen (§ 160 II StPO), in jedem Einzelfall nach kommt, habe ich bereits mehrfach beschrieben:
- Justitia – es gibt Dich wirklich!
- Strafrecht: Der lange Weg zur Gerechtigkeit
- Einstellung Ermittlungsverfahren, § 170 Abs. 2 StPO
- Verteidigung im Strafverfahren
Auch das Verfahren über das ich hier berichten werde, führte zu erheblichen Zweifeln am Ermittlungsergebnis. Und diese Zweifel betreffen – einmal mehr – die Frage, inwiefern die Staatsanwaltschaft im konkreten Einzelfall ihrer Pflicht, Ermittlungen auch in entlastender Hinsicht zu führen, gerecht wird.
Aber die Staatsanwaltschaft ist auf das Ergebnis der Ermittlungsbehörde angewiesen. Sie vertraut darauf, dass die Polizei ihre Arbeit richtig gemacht hat. Allerdings sollte sie nicht vor einem kritischen Blick auf das Ermittlungsergebnis zurückschrecken.
Nur so würde sie sich einen objektiven Standpunkt bewahren und hätte – wie hier im konkreten Fall – auch Zeugen schützen können. Denn dieses Verfahren bot leider etliche Anhaltspunkte dafür, dass auch Zeugen vor falschen Ermittlungen geschützt werden müssen.
Was war geschehen?
Taktik der Strafverteidigung
Das Thema “Verteidigungsstrategie im Strafrecht” oder “Taktik der Strafverteidigung” ist umfassend und bezieht sich – überwiegend – auf konkrete Einzelfälle. Aber auf einen Aspekt möchte ich hier näher eingehen: Soll der anwaltlich vertretene Mandant über seinen Verteidiger eine Stellungnahme im Ermittlungsverfahren abgeben?
Das kommt auf den Einzelfall an! In den Fällen, in denen wir eine Stellungnahme abgegeben haben, haben wir damit gute Erfahrungen gemacht. Aber nicht in jedem Fall ist es eine gute Verteidigungsstrategie.
Mein (unser) Mandant hatte mich erst wenige Tage vor der Hauptverhandlung beauftragt. Der Tatvorwurf war erheblich und betraf u.a. ein Verbrechen. Ihm drohte eine Freiheitsstrafe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden konnte.
Er hatte bereits einen (männlichen) Strafverteidiger. Und er wollte eine zweite Meinung und zusätzlich eine Frau als Strafverteidigerin an seiner Seite. Ich hatte (zunächst) keine Ahnung, wie berechtigt seine Befürchtungen waren.
Stellungnahme des Verteidigers im Ermittlungsverfahren?
Nachdem mir der Mandant den Sachverhalt geschildert hatte, kam ich zunächst (ohne Kenntnis der Ermittlungsakte) zu dem – vorläufigen – Ergebnis, dass ich in diesem Fall eventuell eine Stellungnahme im Ermittlungsverfahren abgegeben hätte, um weitere Ermittlungen anzuregen.
Der Kollege war (zu recht) offensichtlich anderer Auffassung. Es gab keine Stellungnahme. Und auch ich änderte meinem Meinung – nachdem ich die Ermittlungsakte bearbeitet hatte.
Die Ermittlungen wurden extrem einseitig und nur in belastender Hinsicht geführt. Es fehlten nicht nur Ermittlungen in entlastender Hinsicht.
Auch naheliegende Fragen zum vermeintlichen Tatgeschehen, die sich geradezu aufdrängten, hatten die Polizeibeamten den Zeuginnen in der Vernehmung nicht gestellt. Eine Stellungnahme im Ermittlungsverfahren wäre kontraproduktiv gewesen.
Warum eine zusätzliche Strafverteidigerin?
Dem Verfahren lagen u.a. Vorwürfe aus dem Sexualstrafrecht zugrunde. Und auch die weiteren Vorwürfe standen im Zusammenhang mit sexuellen Bindungen, obwohl sie keinen sexuellen Bezug hatten.
Unser Mandant wusste, dass eine Richterin in seinem Verfahren zuständig war. Auch die Staatsanwältin war weiblich. Die Belastungszeuginnen waren es auch. Er sah sich mit seinem (männlichen) Erstverteidiger (mindestens) 6 weiblichen Personen gegenüber (Richterin, Staatsanwältin und 4 Belastungszeuginnen).
Dass es noch schlimmer kommen würde, konnte er allerdings nicht ahnen. Denn Anklage wurde vor dem Schöffengericht erhoben, Und auch die beiden Schöffinnen waren Frauen. Zwei Männer gegen 8 Frauen und Vorwürfe, die (teilweise) einen sexuellen Hintergrund hatten …
Dass unser Mandant bei dieser Konstellation einen weiblichen Aspekt bei der Strafverteidigung wünschte, war schon ohne die konkrete Besetzung des Schöffengerichts nachvollziehbar – erst recht aber, nachdem wir im Gerichtssaal die konkrete Besetzung des Schöffengerichts erkannten.
Verteidigungsstrategie im Strafrecht: Aussage gegen Aussage
Die Grundsätze der „Aussage gegen Aussage“-Konstellation habe ich unter „Aussage gegen Aussage“ beschrieben. Diese “normale” Konstellation betrifft aber die Situation “Eins zu Eins”. D.h. die Aussage eines Belastungszeugen steht der Aussage des Beschuldigten gegenüber.
Gibt es mehrere Belastungszeugen für verschiedene Tatvorwürfe gilt die “Aussage gegen Aussage”-Konstellation nach Auffassung mehrerer Gerichte nur eingeschränkt. Sie nehmen an, es gebe dadurch ein Muster, das für den Wahrheitsgehalt der einzelnen Zeugenaussagen sprechen würde.
Evtl. Verbindungen zwischen mehreren Belastungszeugen werden dabei aber nicht selten verkannt.
Und auch fragwürdige Ermittlungsergebnisse bleiben (evtl.) zunächst unberücksichtigt.
Wie falsch und voreingenommen polizeiliche Ermittlungen wirklich sein können, hat in dem konkreten Fall offenbar nicht nur mich überrascht. Denn auch das Gericht und die Staatsanwältin waren von den Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung verblüfft.
Dass ich einem Ermittlungsergebnis nicht unbedingt vertraue, zeigen bereits die oben verlinkten Artikel.
Aber dieses Ermittlungsverfahren war ein trauriger Rekord. Ein (vermeintlich) kleines Detail war bei einem Tatvorwurf entscheidend für die Frage, ob überhaupt eine (Sexual)-Straftat vorlag. Und genau dieses Detail wurde bei einer Zeugenaussage im Ermittlungsverfahren falsch protokolliert.
Das Ermittlungsverfahren
Ausgangspunkt der Ermittlungen war eine Anzeige wegen sexueller Belästigung. Aus der Anzeige ergab sich der Verdacht weiterer Straftaten. Letztlich gab es (zunächst) drei Zeuginnen, die unserem Mandanten schwerwiegende Handlungen vorwarfen:
- mehrfache schwere Körperverletzung
- Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige (ein Verbrechen)
- sexuelle Belästigung
Daneben gab es diverse schwerwiegende Vorwürfe einer Zeugin, die einerseits zu unkonkret waren, um durch weitere Ermittlungen erhärtet zu werden. Und andererseits sprachen die Ermittlungsergebnisse zumindest zum Teil gegen diese Behauptungen.
Eine weitere Zeugin wurde im Ermittlungsverfahren nicht einmal gehört.
Ich wurde zwar erst kurz vor der Hauptverhandlung mandatiert. Aber die Ermittlungsakte stand mir zur Verfügung. Und noch vor dem ausführlichen zweiten Gespräch mit dem Mandanten waren die Verteidigungsansätze klar. Denn diese ergaben sich direkt aus der Ermittlungsakte.
Es ist immer wieder erfrischend erstaunlich, wenn man als Verteidiger*in feststellt , dass einem die Verteidigungsansätze frei Haus durch die Polizei geliefert werden – erst recht, wenn diese (wie hier) das Gegenteil beabsichtigt hatte.
Verteidigungsansatz: Einseitige Ermittlungen
Staatsanwaltschaft und Gericht müssen eine Vernehmung und den Kenntnisstand eines Zeugen nachvollziehen können. Dazu gehört die genaue Protokollierung von Frage und Antwort.
Aus einer der Zeugenvernehmungen in der Ermittlungsakte ergab sich die Frage, woher die Zeugin den Inhalt anderer Zeugenaussagen kannte. Hatte sie das mit der anderen Zeugin besprochen? Oder hatte sie die Information von der vernehmenden Polizeibeamtin?
Ich vermute letzteres. Denn ich kam zwar nicht mehr dazu, diese Frage in der Hauptverhandlung zu stellen. Aber eine andere Zeugin hatte in der Verhandlung meine erheblichen Zweifel an der Qualität der Protokollierung der Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren bereits bestätigt.
Dazu kam: Im Ergebnis der Schilderungen der Zeuginnen im Ermittlungsverfahren drängten sich wichtige Fragen geradezu auf. Wurden diese durch die vernehmende Polizeibeamtin gestellt? Natürlich nicht. Für sie war die Sache klar. Unschuldsvermutung? Offenbar für die Polizeibeamtin unwichtig!
Verteidigungsansatz: Belastungseifer einiger Zeuginnen
Die Verteidigungsstrategie in diesem Strafverfahren ergab sich bereits aus der Ermittlungsakte. Sie wurde durch meinen Mandanten bestätigt.
Eine Zeugin war nicht einverstanden mit dem Ende der Beziehung. Sie wollte sich rächen. Und es gab nicht nur etliche Beweise für ihre Rachsucht. Sondern es sprach auch einiges dafür, dass sie eine andere Zeugin beeinflusst hatte.
Das Gerichtsverfahren
Ich hatte einige Beweisanträge zu weiteren Zeugenvernehmungen vorbereitet. Aufgrund einer kurzen zeitlichen Verschiebung des Beginns der Hauptverhandlung haben wir diese dem Gericht auch vorab mitgeteilt.
Die erste Zeugin
Unglücklicherweise war die erste Zeugin die Anzeigeerstatterin. Und es war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie fehlerhaft die Zeugenvernehmungen im Ermittlungsverfahren wirklich waren.
Ich konfrontierte sie mit den Fragen, die eigentlich im Ermittlungsverfahren hätten gestellt werden müssen.
Aus ihrer Antwort ergab sich, dass einige der Vorwürfe, die sie in ihrer Anzeige erhoben hatte, nur auf “Hörensagen” beruhten. Zudem hatte sie davon erst im Nachhinein erfahren. Beides ergab sich nicht aus ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren. Allerdings wäre das wichtig gewesen.
Diese Zeugin hat ihre Vernehmung in der Hauptverhandlung sicherlich nicht in guter Erinnerung behalten. Aber es wäre die Aufgabe der Polizei gewesen, das zu klären, was wir in der Hauptverhandlung herausgefunden haben.
Die zweite Zeugin
Auf einen Vorhalt des Gerichts gab diese Zeugin an, dass ihre Aussage durch die Polizeibeamtin in der Vernehmung falsch protokolliert wurde. Das Gericht war skeptisch und zeigte das auch sehr deutlich.
Aber die Zeugin blieb bei ihrer abweichenden Aussage in der Hauptverhandlung. Diese führte dazu, dass bei einer schwerwiegenden Handlung, die meinem Mandanten vorgeworfen wurde, keine Straftat vorlag.
Und erst bei dieser Zeugenaussage wurde offensichtlich, wie falsch die Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren wirklich protokolliert wurden.
Ich hatte zwei Fragen an die Zeugin vorbereitet. Denn in ihrer Zeugenaussage in der Ermittlungsakte konnte ein Datum nicht richtig sein. Zudem konnte eine Äußerung, die meinem Mandanten vorgeworfen wurde, nicht stimmen.
In der Hauptverhandlung hatte die Zeugin beides von sich aus und ohne Nachfrage – glaubwürdig – anders geschildert. Ich musste meine Fragen nicht mehr stellen. Denn die Zeugenvernehmung wurde falsch protokolliert und das Ermittlungsergebnis war fehlerhaft.
Die dritte Zeugin
Diese Zeugin wies nach Auffassung der Staatsanwaltschaft (in der Anklage) keinerlei Belastungseifer auf, weil sie keinen Strafantrag gestellt hatte. Der Staatsanwaltschaft war aber offenbar nicht bewusst, welchen Stellenwert das Internet hat.
Denn für die Handlungen, die diese Zeugin im Ermittlungsverfahren geschildert hatte, war ein Strafantrag nicht erforderlich. Und das konnte die Zeugin durch eine einfache Suche über Google schnell heraus finden.
Diese Zeugin war es auch, die die Trennung von unserem Mandanten nicht gut verkraftet hatte. Ihr Belastungseifer wurde durch ihre Zeugenaussage in der Hauptverhandlung zudem offensichtlich.
Während das zuvor anders war, wurde nunmehr auch das Gericht skeptisch. Schon bei der Befragung durch das Gericht verwickelte sie sich in Widersprüche. Auf diese sind wir Verteidiger dann näher eingegangen, was zu weiteren Widersprüchen in ihrer Aussage führte.
Die vierte Zeugin
Dieserr Tatvorwurf ergab sich im Ermittlungsverfahren aus der Aussage einer anderen Zeugin. Die Ermittlungsbehörde fand diese Zeugin offenbar unwichtig. Denn sie wurde im Ermittlungsverfahren nicht gehört.
Das Gericht sah das anders. Die Zeugin wurde geladen und in der Hauptverhandlung vernommen. Sie hat den Tatvorwurf nicht bestätigt.
Deal
Die Konstellation “Aussage gegen Aussage: Mehrere Zeugen”, die die Staatsanwaltschaft als Indiz für alle Tathandlungen angenommen hatte, hatte sich “in Luft aufgelöst”. Es war Zeit für einen sog. “Deal”.
Denn aufgrund unseres Beweisantrags hätten weitere Zeugen gehört werden müssen. Die entsprechenden Tatvorwürfe waren aber aufgrund der Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung bereits fragwürdig.
Andererseits hatten sich einige Tatvorwürfe durch die glaubwürdige Aussage der zweiten Zeugin bestätigt.
Es fand eine Verständigung zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten statt. Beteiligt waren die Richterin, die Schöffinnen, die Staatsanwältin und die Verteidiger.
Verteidigungsstrategie im Strafrecht: Ergebnis
Für einige Handlungen erfolgte Freispruch. Andere wurden eingestellt. Aber einige Handlungen blieben strafrechtlich relevant.
Die Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige ist ein Verbrechen. Hier kam aber der minderschwere Fall in Betracht.
Während ursprünglich eine Freiheitsstrafe im Raum stand, die nicht mehr zur Bewährung hätte ausgesetzt werden können, wurde unser Mandant für die verbliebenen Vorwürfe zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Fazit:
Wie oben bereits ausgeführt, gab es hier (nicht zum ersten mal in meinen Strafverfahren) erhebliche Mängel im Ermittlungsverfahren.
Und als Strafverteidigerin müsste ich mich eigentlich dafür bedanken, dass mir die Steilvorlagen für die Verteidigung von den Ermittlungsbehörden “frei Haus” geliefert werden.
Die Aufgabe eines Strafverteidigers ist der Kampf um die Rechte des Mandanten. (Nicht nur) dieses Strafverfahren zeigt, wie wichtig ein Strafverteidiger ist, um diese Rechte auch durchzusetzen.
Die einseitig – nur in belastender Hinsicht (zudem fehlerhaft und unvollständig) – geführten Ermittlungen hatten hier u.a. (auch) dazu geführt, dass zwei Zeuginnen sich in der Hauptverhandlung sehr unangenehmen Fragen stellen mussten. Beide haben das offensichtlich als ausgesprochen belastend empfunden.
Die Ermittlungsbehörden hätten die Zeuginnen schützen können, wenn sie ihrer Verantwortung nachgekommen wären. Das war hier nicht der Fall.
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