Die Straßenblockaden von Mitgliedern der Gruppe „Letzte Generation“ führen zu Ärger bei den betroffenen Autofahrern. Aber sie ziehen auch erhebliche mediale Aufmerksamkeit auf sich.
In den entsprechenden Veröffentlichungen kommen jedoch oft wichtige Rechtsfragen zu kurz. Dabei geht es u.a. um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.
Die 90er Jahre
In den 90er Jahren entwickelte der BGH die sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“. Dabei ging (und geht) es um den Begriff der „Gewalt“ i.S. von § 240 StGB (Nötigung).
Danach liegt Gewalt vor, wenn bei der Blockierung einer Straße durch Aktivisten der Blockierer durch Einsatz seines Körpers eine Barriere für das zuerst heranfahrende Fahrzeug aufbaut. Denn wenn dieses zum Stehen kommt, wirkt es als physische, unüberwindbare Barriere für nachfolgende Fahrzeuge (BGH, Urteil v. 20.7.95, 1 StR 126/95).
Das BVerfG kam in den folgenden Jahren zu dem Ergebnis, dass die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ grundsätzlich verfassungskonform ist. Das gilt jedoch nicht für jeden Einzelfall einer strafgerichtlichen Verurteilung wegen Nötigung durch Sitzblockade auf einer befahrenen Straße.
Versammlungsfreiheit: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde
Diese Entscheidung stammt aus dem Jahr 2011. Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beschwerdeführer hatte zusammen mit weiteren Personen im Jahr 2004 aus Protest gegen die drohende militärische Intervention der USA im Irak auf einer zum Luftwaffenstützpunkt der US-amerikanischen Streitkräfte bei Frankfurt am Main führenden Straße an einer Sitzblockade teilgenommen.
Er wurde vom Amtsgericht wegen Nötigung (§ 240 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers wurde vom Landgericht verworfen.
Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 388/05
Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben. Denn sie verletzte den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG.
In dieser Entscheidung führt das BVerfG u.a. aus:
„Der Schutz [des Art. 8 GG] ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (…).
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (…).
Begreift man die Ausführungen des Landgerichts dahin, dass der Aktion der Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG deshalb abzusprechen sei, weil die Demonstranten sich unfriedlicher Mittel im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG bedient hätten, halten sie einer verfassungsrechtlichen Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Entscheidung des Landgerichts sowie den zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ist nicht zu entnehmen, dass es bei der Aktion zu Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen gekommen ist und die Versammlung hierüber insgesamt einen durch Aggressionen geprägten unfriedlichen Charakter gewonnen hat.“
BVerfG, 1 BvR 388/05
Das BVerfG hat in dieser Entscheidung auch folgende Abwägungselemente berücksichtigt:
„Die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch (den) Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand.“
Und genau da liegt das Problem: Es geht um die Abwägung zwischen Nötigung und Versammlungsfreiheit. Ob die aktuelle Rechtsprechung diese Abwägung in jedem Einzelfall zutreffend vorgenommen hat, wird ggf. erneut das BVerfG entscheiden müssen.
Aktuelle Rechtsprechung zur Nötigung und Versammlungsfreiheit
Abgesehen davon, dass Urteile immer einzelfallbezogen sind, ist die Rechtsprechung keinesfalls einheitlich. Das zeigen insbesondere zwei Urteile des AG Freiburg.
AG Freiburg zu Sitzblockaden (2022)
Diese Urteile betrafen die gleiche Sitzblockade vom 07.02.22. Ein Angeklagter wurde freigesprochen (AG Freiburg im Breisgau, Urteil vom 21.11.2022 – 24 Cs 450 Js 18098/22).
Nur einen Tag nach dieser Entscheidung wurde ein weiterer Angeklagter für die Teilnahme an dieser Sitzblockade zu einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen à 10 Euro verurteilt (AG Freiburg im Breisgau, Urteil vom 22.11.2022 – 28 Cs 450 Js 23773/22)
Rechtsprechung 2023
Aktuell tendiert die Rechtsprechung bei den Sitzblockaden der Gruppe „Letzte Generation“ überwiegend zu einer Verurteilung wegen Nötigung. Teilweise werden auch höhere Strafen ausgesprochen:
Ging es zunächst um Geldstrafen, werden inzwischen auch Freiheitsstrafen – teilweise ohne Bewährung – ausgesprochen. Allerdings sind auch das Einzelfallentscheidungen, die teilweise Handlungen betreffen, die zeitnah nach einer Verurteilung wegen Nötigung (durch eine Sitzblockade) begangen wurden.
In Bayern ist auf der Grundlage des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) auch sog. Präventivhaft möglich.
Droht eine Gesetzesänderung?
Mittlerweile mehren sich in der politischen Diskussion die Stimmen, die nach einer Gesetzesänderung mit Strafverschärfung rufen. Allerdings ist das eher keine gute Idee (siehe beispielsweise Besitz + Verbreitung kinderpornografischer Inhalte: Strafverschärfung).
Der Strafrahmen des § 240 StGB (Nötigung) sieht eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vor. Dieser Strafrahmen liegt der Entscheidung der Gerichte derzeit zugrunde. Und er ist ausreichend, um auf die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ zu reagieren, wenn das Gericht eine Strafbarkeit bejaht.
In der BRD ist die Gewaltenteilung eine Grundlage der demokratischen Ordnung. Die Legislative ist die gesetzgebende Gewalt. Die Judikative ist die rechtsprechende Gewalt. Auf die Exekutive (ausführende Gewalt) gehe ich in diesem Zusammenhang nicht weiter ein.
Diese „Gewalten“ sollen sich gegenseitig kontrollieren und staatliche Macht begrenzen. Der (politische) Ruf nach einer Strafverschärfung ist (oft) Kritik an der Judikative. Aber ist diese auch berechtigt?
Die Strafverschärfung des § 184b StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte) war – aus meiner Sicht – ein Kniefall vor der Leserschaft einer auflagenstarken, überregionale Boulevardzeitung, die mehrfach gegen den Pressekodex verstoßen hat.
Die (fundierten) Stimmen, die sich gegen diese Gesetzesänderung aussprachen, verhallten ungehört. Und was ist das Ergebnis? Die Gesetzesänderung ist nicht praktikabel. Es bedarf einer erneuten Gesetzesänderung – die vorherige Gesetzesänderung muss entschärft werden .
Soll sich diese Blamage wiederholen? Oder siegt die Vernunft?
Hinweis:
Dieser Artikel wurde zuerst im April 2011 veröffentlicht und betraf damals nur die o.a. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Beitrag wurde hinsichtlich der aktuellen Rechtsprechung ergänzt und erneut veröffentlicht.