Die Verteidigung im Jugendstrafrecht unterscheidet sich (teilweise) von der Verteidigung im Erwachsenenstrafrecht: Der Erziehungsgedanke durchzieht als übergeordnetes Prinzip das gesamte Jugendstrafrecht.
Während bei einem Erwachsenen (als Hauptstrafen) nur Freiheits- oder Geldstrafen verhängt werden können, sind im Jugendstrafrecht eine Vielzahl von Sanktionen möglich. Dabei stellt die Jugendstrafe die schwerste Sanktionsform innerhalb des Jugendstrafrechts dar.
Voraussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe
Wenn Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel aufgrund von schädlichen Neigungen oder der Schwere der Schuld nicht (mehr) ausreichen, kann eine Jugendstrafe verhängt werden (§ 17 JGG). Damit sind die Voraussetzungen für die Verhängung einer Jugendstrafe deutlich strenger, als bei einer Freiheitsstrafe im Erwachsenenstrafrecht.
Die Feststellung von schädlichen Neigungen ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, die sich aus § 27 JGG ergeben. Diese Norm enthält auch die Möglichkeit, die Entscheidung über die Verhängung der Jugendstrafe für eine vom Richter zu bestimmende Bewährungszeit aussetzen.
Zu Unrecht wird von dieser Möglichkeit in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht. Das war in diesem Strafverfahren anders.
Wo die Liebe hin fällt
Meine Mandantin war jung und unerfahren. Und sie war verliebt. Oder anders ausgedrückt: Sie war blind vor Liebe. Zwar wusste sie, dass ihr Freund vorbestraft war. Aber das hatte für sie keine Bedeutung. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Aber es gab Situationen, da wären etwas mehr Selbstschutz und etwas mehr Verstand angebracht gewesen.
Die Geschäftsidee
Das Liebespaar war „knapp bei Kasse“. Und der Freund hatte eine Idee: Warum nicht einen Online-Handel aufziehen? Dass er mit dieser Idee zuvor schon einmal gescheitert war und Staatsanwaltschaft und Gericht seine Geschäftspraktiken (zutreffend) als Betrug eingeordnet hatten, kümmerte ihn nicht weiter.
Für das Geschäft waren eine Gewerbeanmeldung und ein Konto erforderlich. Offenbar reichten einige Küsse, um meine Mandantin dazu zu bewegen, diesen Part zu übernehmen und auch ihren eBay-Account für die „Firma“ zur Verfügung zu stellen.
Da ihr Freund sie nicht weiter „belasten“ wollte, war ihr Aufgabenbereich eng begrenzt. Er war der „Chef“ und verantwortlich für das „Große Ganze“. Sie sollte nur einige Detailaufgaben „auf Zuruf“ erledigen.
Das Geschäftsmodell: Betrug
Das „Geschäftsmodell“ schien schon nach kurzer Zeit zu funktionieren – es war Geld auf dem Konto. Zwar fehlte die Ware, die die Käufer bereits bezahlt hatten. Aber das war für den Freund kein Problem – er dachte, die Produkte könnten mit den nächsten Zahlungseingängen für andere (nicht vorhandene) Artikel bestellt und dann an die Käufer geliefert werden.
Der Freund meinte, dass der Kopf meiner Mandantin viel zu hübsch sei, um sich mit derartigen mathematischen “Feinheiten” näher zu befassen. Und er fand, dass es nunmehr auch an der Zeit sei, sich etwas zu gönnen:
Sein Interesse galt einem gebrauchten Sportwagen für ca. 50.000 €. Dieses „Schnäppchen“ sollte vom Geschäftskonto bezahlt werden. Meine Mandantin wurde damit beruhigt, dass ein (angeblicher) Onkel, den beiden demnächst 100.000 € schenken werde.
Irgendwann hatte meine Mandantin dann doch Zweifel – etliche Käufer hatten sich inzwischen darüber beschwert, dass sie die bereits bezahlten Artikel nicht erhalten hatten.
Und auch die Polizei hatte nunmehr einige Fragen. Aber die hübschen blauen Augen ihres Liebsten verfehlten ihre Wirkung (noch) nicht: Sie erklärte den erstaunten Polizisten, ihr Freund habe mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun.
Ihr Verstand setzte erst wieder ein, als der ehemals Liebste sie zunehmend unter Druck setzte und bedrohte.
Das Jugendstrafverfahren
Der Anklage lagen etliche – teils versuchte – Betrugshandlungen mit einem Schaden im fünfstelligen Bereich zugrunde.
Meine Mandantin war nicht vorbestraft. Ihr nunmehr Ex-Freund hatte inzwischen eingeräumt, dass er die treibende Kraft hinter den „geschäftlichen“ Vorgängen war und meine Mandantin von vielen Details keine Kenntnis hatte. Aber letztlich war sie an den Betrugshandlungen beteiligt.
Denn dieses Geschäftsmodell konnte von Anfang an nicht funktionieren. Die beiden wollten sich damit eine Existenzgrundlage schaffen. Sie hatten jedoch bei der Preisbildung vergessen, eine Gewinnspanne einzurechnen. Daher stand ihnen das Einkommen, das sie sich vom Geschäftskonto gönnten, tatsächlich gar nicht zur Verfügung.
Das Gericht berücksichtigte, dass meine Mandantin noch sehr jung und unerfahren war, sie nur eine untergeordnete Rolle spielte und viele Dinge gar nicht durchschaute. Es kam – aus verschiedenen Gründen – zu dem Ergebnis, dass die für eine Jugendstrafe erforderliche Schwere der Schuld nicht gegeben war.
Bei der Verteidigung (nicht nur) im Jugendstrafrecht ist es wichtig, alle Gesichtspunkte zu würdigen und auch Normen, die sonst nur eine eher untergeordnete Rolle spielen, bei der Argumentation zu berücksichtigen.
Bei diesem Strafverfahren war mir sehr schnell klar, dass das Tatbestands-Merkmal der „schädlichen Neigungen“ von besonderer Bedeutung sein wird.
Verteidigung im Jugendstrafrecht: Schädliche Neigungen
Der Begriff der „schädlichen Neigungen“ wird – aus verschiedenen Gründen – schon seit Jahren kritisiert. Dabei wird u.a. bemängelt, dass dieser Begriff zu ungenau ist.
Daher war es erforderlich, dass die Rechtsprechung Definitionsansätze entwickelt. Der BGH hat dazu festgestellt:
„Schädliche Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Voraussetzung ist ferner, dass die schädlichen Neigungen auch noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen.„
__BGH (4 StR 37/15)
Hier war es jedoch so, dass (nach meiner Meinung) nicht mit Sicherheit beurteilt werden konnte, ob die Taten meiner Mandantin überhaupt auf „schädlichen Neigungen“ beruhten. Und selbst wenn man das bejahen würde, war nicht klar, ob diese zum Zeitpunkt der Verhandlung noch vorlagen.
Ich regte daher an, dass nach § 27 JGG verfahren wird. Das Gericht folgte meiner Anregung:
Die Schuld meiner Mandantin wurde festgestellt. Und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe wurde für eine Bewährungszeit von drei Jahren ausgesetzt.
Die Taterträge wurden eingezogen.
Gegen den Ex-Freund meiner Mandantin wurde (unter Einbeziehung der Vorstrafe) eine mehrjährige Jugendstrafe verhängt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte.
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